Beratungsstelle Extremismus: Thema “Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit”

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Thema “Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit”

Die 2014 gegründete Beratungsstelle Extremismus ist die bundesweite Anlaufstelle für alle Fragen zum Thema Extremismus und Extremismusprävention.

Die Beratungsstelle Extremismus baut auf den Erfahrungen der Offenen Jugendarbeit in der Arbeit mit radikalisierungsgefährdeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf. Mittlerweile hat sie sich als zentrale österreichische Anlaufstelle zu allen Fragen rund um das Thema Extremismus etabliert. Im Ansatz der Beratungsstelle findet sich sowohl die Arbeit mit Primärbetroffenen als auch die Arbeit mit Sekundärbetroffenen, also die systemische Beratung und Betreuung von Angehörigen und Bezugspersonen radikalisierungsgefährdeter und radikalisierter Personen sowie Fortbildungen und Fachberatungen für MultiplikatorInnen.

2017 hat die Beratungsstelle Extremismus gemeinsam mit dem Verein NEUSTART und dem Verein DERAD das Pilotprojekt „Exit Austria“ durchgeführt. Initiiert wurde das Pilotprojekt von der Präventionsabteilung des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT); Strategien und Konzepte wurden laufend in Rückkopplung mit den beteiligten Vereinen sowie dem Bundesweiten Netzwerk Extremismusprävention weiterentwickelt.

Systematische Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit

Seit Beendigung des Pilotprojektes führt die Beratungsstelle Extremismus systematische Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit fort. Das Konzept hierfür wurde in Kooperation mit nationalen und internationalen ExpertInnen weiterentwickelt. In der praktischen Arbeit wird auf die bereits bestehenden Strukturen und Expertise zurückgegriffen. Mit dieser verstärkten Fokussierung auf die Arbeit mit Primärbetroffenen wurde in der Beratungsstelle Extremismus eine ganzheitliche Schnittstelle in Bezug auf Extremismus geschaffen, die nunmehr auf allen Präventionsebenen agiert und Hilfestellungen für alle Betroffenen anbietet.

Methodische Ansätze

Der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit liegt ein breites Verständnis von Ausstieg zugrunde, das heißt, ein Ausstieg bezieht sich nicht nur auf die Distanzierung von Gewalt (in der Fachliteratur auch „Disengagement“ genannt), sondern setzt auch eine Distanzierung von der extremistischen Ideologie voraus. Der Fokus liegt dabei auf psychosozialen Dynamiken des Radikalisierungsprozesses.

Sozialarbeiterische, psychosoziale bzw. affektive Ansätze werden mit einem ideologiekritischen Ansatz zu einem ganzheitlichen Ausstiegs- und Distanzierungsmodell verbunden. Dahinter steht die Überzeugung, dass einer Hinwendung zu einer extremistischen Gruppe/Szene/Ideologie individuelle Bedürfnisse und Defizite zugrunde liegen/lagen, die bearbeitet werden müssen, um einen nachhaltigen Ausstieg zu erreichen. Grundlage hierfür bildet das Modell der „Fünf Säulen der Identität“ von Hilarion Petzold.

Der Ausstiegsprozess durchläuft verschiedene Phasen, die sich in der Praxis auch überschneiden können und nicht klar voneinander getrennt sind.

Beziehungsaufbau/Clearingphase

Die Fälle, welche die Beratungsstelle Extremismus betreut, werden in erster Linie über die Helpline, über MultiplikatorInnen, aber auch über Peers (bzw. szenerelevante Personen) an die Beratungsstelle Extremismus herangetragen. In mehreren Gesprächen wird in einer ersten Phase die Ausstiegs- bzw. Distanzierungsmotivation bearbeitet, was die Grundlage für eine (kurz-, mittel-, langfristige) gemeinsame Zielentwicklung mit den KlientInnen und die Erstellung des individuellen Betreuungsplanes ist. Dieser bildet die Grundlage der Arbeitsbeziehung zwischen KlientIn und AusstiegsbegleiterIn. Wesentlich für die Betreuung ist gegenseitiges Vertrauen. Daher müssen zu Beginn die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des Betreuungssettings transparent gemacht und ausgehandelt werden. Voraussetzung auf der KlientInnenseite sind dafür Freiwilligkeit und eine glaubhafte Ausstiegsmotivation.

Pädagogische Auseinandersetzung mit „Push-Faktoren“, Reflexion und Verstärkung

Zu Beginn sind es meist die sogenannte „Push-Faktoren“, die die größte Rolle spielen bei dem Wunsch aus einer Gruppe auszusteigen oder sich von einem Milieu zu distanzieren. Das können zum Beispiel unerfüllte Erwartungen und Desillusionierungen in Bezug auf Strategie und Aktionen der Gruppe sein, aber auch die Unzufriedenheit mit der eigenen Rolle in der Gruppe. Das trifft zum Beispiel auf viele Personen zu, die vor 2016 mit dem sogenannten Islamischen Staat sympathisiert haben. Ein weiterer wesentlicher Faktor sind Schwierigkeiten mit dem Leben als Mitglied einer extremistischen Gruppe, etwa wegen polizeilicher Repressionen.

Die pädagogische Auseinandersetzung mit diesen „Push-Faktoren“ (speziell mit der Unzufriedenheit mit der eigenen Rolle im extremistischen Milieu), deren Reflexion und Verstärkung sind erste Schritte in der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit.

Betreuungsphase

Die Phase der Betreuung setzt sich aus mehreren Modulen zusammen, welche individuell auf die Bedürfnisse der KlientInnen abgestimmt werden und in der Zusammenarbeit mit unterschiedlichen KooperationspartnerInnen erfolgen.

Erarbeitung eines positiven Selbstbildes

Gemeinsam mit den KlientInnen wird erarbeitet, welche Personen, Umstände und Meilensteine entscheidend für den Verlauf ihres bisherigen Lebens waren. Ein spezieller Blick soll hierbei auf die Phase der politischen Sozialisation und den Einstieg in die extremistische Szene geworfen werden. Dabei arbeitet die Beratungsstelle mit der Methode der Narrativen Biographiearbeit. Das Ziel ist die Reflexion der eigenen Biographien sowie die Entwicklung neuer Perspektiven in Bezug auf diese. In einigen Fällen ist es dabei sinnvoll, KlientInnen an therapeutische Einrichtungen, wie beispielsweise die Männerberatung, zu vermitteln.

Stabilisierung des sozialen Lebens, Erarbeitung alternativer Perspektiven

Hier geht es um eine soziale Stabilisierung und Maßnahmen zur Reintegration beziehungsweise zur Integration sowie die Erarbeitung von Perspektiven – also klassische Sozialarbeit. Die Themenfelder sind, je nach KlientIn, die Bereiche Wohnen, Arbeit, Freizeit, soziales Netzwerk, aber auch psychische und physische Gesundheit.

Die Rolle der AusstiegsbegleiterInnen ist es hier (vergleichbar mit dem Case Management), die Klientinnen zu Einrichtungen wie Wohnberatung oder Arbeitsmarktservice zu begleiten, die Übersicht zu behalten und Reflexionsraum für entstehende Fragen zu schaffen. Das Ziel ist die psychosoziale Stabilisierung, die Schaffung eines gelingenden Alltages und die Entwicklung von beruflichen sowie sozialen Perspektiven.

Abbau von psychischer und physischer Bindung an extremistische Milieus und Erarbeitung eines stabilen sozialen Umfeldes

Im Rahmen von Radikalisierungsprozessen erfolgt in Wechselwirkung mit der extremistischen Gruppierung und deren Ideologie eine Entfremdung aus dem gewohnten Umfeld und eine enge Bindung an das neue extremistische Milieu. Der Abbau dieser Bindung, die oftmals sektiererische Züge aufweist, ist ein äußerst langer und schwieriger Prozess. Wesentlich hierfür ist es, den KlientInnen Raum zur selbstreflexiven Auseinandersetzung mit sich selbst und den Werten und Normen des jeweiligen extremistischen Milieus zu geben. Insbesondere Mechanismen von Gruppendruck, Loyalität und Gruppenzwang werden gemeinsam analysiert, und es wird die Reflexion der eigenen Handlungsoptionen und Gestaltungsmöglichkeiten in Beziehungen, Cliquen oder Gruppen vorgenommen.

Das Ziel ist der Abbau von psychischer und physischer Bindung an extremistische Milieus und der Aufbau eines neuen sozialen Umfeldes.

Arbeit an der Gewaltbereitschaft

Erster Anknüpfungspunkt sind bei der Arbeit zum Abbau von Gewaltbereitschaft die begangenen Delikte, sofern welche vorhanden sind. Neben Gesprächen über Normen und den strafrechtlichen Rahmen gilt es hier vor allem herauszuarbeiten, welche Handlungen und Entscheidungen der Klient oder die Klientin getroffen hat, die zu den spezifischen Delikten geführt haben. Das Ziel ist die Abkehr von Gewaltbereitschaft.
Mit zu berücksichtigen sind hier besonders die politische Dimension sowohl in Bezug auf die individuellen Handlungen und Haltungen als auch auf die Gruppe und Ideologie. Das ist insofern wesentlich, als extremistische Ideologien Gewalt legitimieren. Zentral sind daher verantwortungspädagogische Zugänge, mit dem Ziel, dass die KlientInnen selbst die Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen. Eine Methode ist hier der Perspektivenwechsel. Vor allem die unterschiedlichen Opferperspektiven werden in die Arbeit eingebaut.

Arbeit an der ideologischen Distanzierung

In vielen Gesprächen erfolgt zunächst eine Abklärung, welche ideologischen Elemente der Klient oder die Klientin in sein beziehungsweise ihr Weltbild übernommen hat und welche Bedürfnisse dahinter stecken. Hier ist es wesentlich, diesem Prozess viel Zeit zu lassen. Im Rahmen von Radikalisierungsprozessen werden in den meisten Fällen nur bestimmte Teilaspekte der jeweiligen Ideologie übernommen, nämlich jene Aspekte, die als identitätsstiftend wahrgenommen werden und die den Bedürfnissen der KlientInnen entsprechen.

Vor allem auf diese Bedürfnisse können anschließend die Interventionen aufbauen. Voraussetzung ist eine emotionale Bindung zur Ausstiegsbegleiterin beziehungsweise zum Ausstiegsbegleiter und die vorausgegangene Bearbeitung der aktuellen Lebenssituation und existenzieller Notlagen. Wesentlich ist es, ideologische Elemente zu bearbeiten, die Gewalt und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit legitimieren beziehungsweise exklusivistisch wirken. Das wichtigste Werkzeug ist dabei der Ausstiegsbegleiter beziehungsweise die Ausstiegsbegleiterin selbst und seine/ihre Wertehaltungen in Verbindung zu den Menschenrechten.

Weitere Ansätze in diesem Modul sind Wertediskussionen, die Arbeit mit alternativen Narrativen, sowie Refraimingansätze (also Ansätze, Situationen und Themen von anderen Perspektiven zu betrachten und nicht der extremistischen Deutung zu folgen). Das Ziel ist die Distanzierung von problematischen ideologischen Elementen und die Erarbeitung einer inklusivistischen, gewaltfreien Identität.

Projektarbeit und „konkrete Utopie“

Im Rahmen des Prozesses gibt es auch die Möglichkeit, ein eigenes Projekt zu finden und mit Unterstützung des Ausstiegsbegleiters oder der Ausstiegsbegleiterin durchzuführen. Diese Methode geht zurück auf Paulo Freire (1984) und die Theorie des Erfahrungslernens, wonach Menschen am besten lernen, indem sich Reflexion und Aktion abwechseln. Nur indem man den KlientInnen die Möglichkeit gibt, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten, kann man auch der Entfremdung und Ohnmacht entgegenwirken und Selbstwirksamkeit erfahrbar machen.

Die Phase der Nachbetreuung

Wann eine Betreuung beendet wird, ergibt sich vor allem aus der Erreichung der Ziele aus der Betreuungsphase. Im Rahmen der Nachbetreuung ist die Reflexion auf die bisherige gemeinsame Arbeit und die gemeinsam erreichten Ziele wesentlich.

Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit ist ein komplexer Prozess mit sehr betreuungsintensiven Phasen. Umso wichtiger sind regelmäßige Teamsitzungen, Fallbesprechungen und begleitende Supervision.

Die Helpline der Beratungsstelle Extremismus

Für Rückfragen, besonders, wenn Sie Personen kennen, die aus einer extremistischen Gruppe oder Szene aussteigen wollen und dafür Unterstützung brauchen, melden Sie sich bei der Helpline der Beratungsstelle Extremismus unter 0800 202044 Montag–Freitag, 10:00–15:00 Uhr. Anonym und vertraulich! Kostenfrei aus ganz Österreich.

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