Thema: Frauen* und Extremismus
Attraktivität und Funktion rechtsextremer und dschihadistischer Ideologien für (junge) Frauen* [1]
Von Verena Fabris, Eşim Karakuyu
Hintergrund
In über 30 % der Fälle, die an die Beratungsstelle Extremismus herangetragen werden, bei denen die Sorge besteht, dass sich eine Person radikalisieren könnte, geht es um (junge) Frauen*. Während im Bereich des islamistischen Extremismus Frauen* und Männer* in etwa gleich stark vertreten sind, stellen im Rechtsextremismus junge Männer* mit rund 80 Prozent die deutliche Mehrheit.[2] Laut Verfassungsschutzbericht wurden im Jahr 2024 1.116 rechtsextreme Straftaten zur Anzeige gebracht. 90,8 % betrafen männliche* Personen und 9,2 % weibliche* Personen. Im Zusammenhang mit islamistischem Extremismus gab es 202 Anzeigen. Bei diesen handelte es sich zu 58,4 % um männliche* und zu 41,6 % um weibliche* Personen (vgl. Verfassungsschutzbericht 2024).
Die Beteiligung von Frauen* in gewalttätigen extremistischen Gruppierungen wurde lange Zeit unterschätzt. Obwohl in den letzten Jahren eine Reihe wissenschaftlicher Studien und genderspezifische Projekte durchgeführt wurden (vgl. Tinç, Brinkmöller, Krämer, Kreise & Wetchy, 2023), werden Frauen* sowohl in der Forschung als auch in der öffentlichen Betrachtung immer noch häufig stereotyp entweder als Opfer, als romantische Träumerinnen oder Anhängsel von Männern* angesehen. Im Diskurs werden sie selten als selbstbestimmte Subjekte mit einem fanatischen Weltbild, deren Beteiligung in extremistischen Gruppierungen eigenständig motiviert ist, wahrgenommen.
Die Pädagogin und Forscherin zu Gender und Rechtsextremismus Ester Lehnert bezeichnet diese Wahrnehmung von Frauen als „doppelte Unsichtbarkeit“: Aufgrund der Vorstellung, dass Frauen* generell friedfertiger seien, werden sie als Akteur*innen unterschätzt (vgl. Lehnert 2013).
Männer- und Frauenbilder
Was rechtsextreme und dschihadistische Ideologien eint, sind vormoderne Geschlechterbilder, geprägt von Sexismus, Homophobie und Ungleichwertigkeits-vorstellungen von Frauen und Männern. Die Geschlechterbilder beruhen auf einem binären und stark patriarchal geprägten Verständnis: Es wird nur zwischen ‚Mann‘ und ‚Frau‘ unterschieden, andere Identitäten finden darin keinen Platz.
Für Männer kann das attraktiv sein, weil ihnen „wahre Männlichkeit“ versprochen wird. In rechtsextremen Ideologien wird die Emanzipation von Frauen häufig als Verlust männlicher Autorität und gesellschaftlicher Ordnung dargestellt. Männer erscheinen hier als zentrale Träger der „Volksgemeinschaft“ und verkörpern sogenannte soldatische Tugenden wie Härte, Kampfesmut, Opferbereitschaft und Schmerzresistenz. Das Idealbild des Mannes verbindet körperliche Stärke mit Disziplin und der Bereitschaft, sich selbst für das Kollektiv aufzuopfern. Gleichzeitig wird dem Mann die Rolle des Familienvaters zugeschrieben, der durch möglichst viele Kinder aktiv zum „Erhalt der Nation“ beiträgt. Dieses Bild ist eng mit völkischen Vorstellungen verknüpft: Männer sollen die „deutsche Volksgemeinschaft“ nicht nur militärisch, sondern auch biologisch schützen – insbesondere vor der als Bedrohung imaginierten „Überfremdung“. In dieser Konstruktion verschmelzen patriarchale Geschlechterbilder mit nationalistischer Ideologie, wodurch Männlichkeit zu einem politischen Projekt wird, das auf Abgrenzung, Abwehr und Abwertung des Anderen basiert. (Vgl. Overdieck 2014)
Auch in dschihadistischen Ideologien wird ein soldatisches Männlichkeitsideal konstruiert. Männer erscheinen dort als kämpferische Verteidiger von Religion, Familie und Gemeinschaft, ausgestattet mit Attributen wie Härte, Opferbereitschaft und Wehrhaftigkeit. Zentral ist die Erzählung, dass sogenannte „westliche“ oder „europäische Werte“ eine existenzielle Gefahr für Muslim*innen darstellen würden. Diese Bedrohungskulisse dient dazu, eine klare Abgrenzung zwischen „Wir“ und „Sie“ zu schaffen, wobei sich die dschihadistischen Akteure als notwendige Schutzmacht inszenieren. Damit wird ein Ideal entworfen, das sowohl Gewalt legitimiert als auch Geschlechterrollen rigide verengt. Forschung und Präventionsarbeit betonen, dass es sich hierbei um ein ideologisches Konstrukt handelt, das nicht mit muslimischem Leben oder Glauben gleichgesetzt werden darf. (Vgl. Fouad, Said 2020)
In beiden Ideologien ist für Männer eine Vormachtstellung vorgesehen, die natürlich oder göttlich gegebenen ist: Männer dürfen Frauen dominieren. Gerade in der Phase der Adoleszenz und in Krisenmomenten können solche Männlichkeitsbilder zur eigenen Aufwertung sowie zur Unterdrückung eigener passive Anteile und angstbesetzter Emotionen beitragen. Frauen wird in diesen Ideologien eindeutig eine ungleiche und minderwertigere Rolle zugedacht, meist die der Mutter, die für die Familie und Gemeinschaft sorgt.
Wieso sind diese Ideologien für Frauen dennoch attraktiv? Ist es nur die Rückbesinnung auf ein festgeschriebenes Frauenbild oder eher dessen Neuerfindung? Begreifen manche Frauen und Mädchen ihre Wahl für ein fundamentalistisches Weltbild als Emanzipation?
Attraktivität extremistischer Ideologien für Frauen
Für viele Mädchen* und junge Frauen* entsteht das Gefühl von Überforderung dadurch, dass sie gleichzeitig unterschiedlichen und teils widersprüchlichen Erwartungen gerecht werden sollen. Familie, Schule, Community, Partnerschaften und gesellschaftliche Strukturen stellen Ansprüche, die sich oft überlagern, einander widersprechen oder verstärken. Dieses Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung und den Erwartungen von außen kann Verunsicherung, Konflikte und Versagensängste auslösen. Besonders belastend ist es, wenn Rollen in jeweiligen Systemen miteinander konkurrieren.
Extremistische Ideologien knüpfen an diese Erfahrungen an, indem sie klare, scheinbar stabile Rollenbilder anbieten, die Orientierung und Entlastung versprechen. Damit reagieren sie auf reale Überforderungen, verschärfen aber gleichzeitig die Einengung von Lebensentwürfen. Eine Aufwertung der Rollen als Ehefrau und Mütter sowie eine scheinbare Klarheit und Gleichwertigkeit in diesen festgeschriebenen Rollenbildern, kann in Bezug auf Rollenkonflikte und problematische Geschlechterrollenerfahrungen entlastend wirken.
Zu den zentralen Bedürfnissen und Fragen, mit denen sich viele Mädchen* und junge Frauen* auseinandersetzen, gehören das Streben nach Zugehörigkeit und Solidarität – oft verbunden mit dem Wunsch nach einer verlässlichen Gemeinschaft oder „Sisterhood“ – sowie das Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit, auch in Hinblick auf Erfahrungen von (sexualisierter) Gewalt. Die Funktion von extremistischen Szenen als „Schutzraum“ vor sexualisierter Gewalt begegnet uns in der Beratungspraxis und wird auch von Forscher*innen aufgezeigt (vgl. OSCE 2022). Extremistische Gruppierungen inszenieren sich oft als Schutzmacht für Mädchen* und junge Frauen*. Sie versprechen Schutz vor Übergriffen, indem sie Männer innerhalb der eigenen Strukturen als „Beschützer“ darstellen. Gleichzeitig vermitteln sie die Botschaft, dass Sicherheit nur innerhalb der eigenen Gemeinschaft gewährleistet sei: Wer in den vorgegebenen Kreisen bleibt, müsse keine Gewalt befürchten, da die „Gefahr“ außerhalb dieser Grenzen verortet würden. Damit wird ein doppeltes Kontrollsystem geschaffen – einerseits durch die Zuschreibung von Schutz, andererseits durch die Einschränkung von Bewegungs- und Handlungsspielräumen.
Viele junge Frauen* formulieren ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle über ihr eigenes Leben und nach Selbstbestimmung – insbesondere dann, wenn äußere Umstände als fremdbestimmt oder belastend erlebt werden. In einer von Leistungsdruck, Schönheitsidealen und widersprüchlichen Erwartungen geprägten Lebenswelt suchen sie nach Entlastung, Orientierung und nach Anerkennung für die eigene Person und ihr Handeln. Marginalisierungserfahrungen – sei es durch Rassismen, Sexismus oder Klassismus – verstärken diese Herausforderungen zusätzlich und machen deutlich, dass gesellschaftliche Versprechen von Emanzipation und Gleichberechtigung für viele nur eingeschränkt wirksam sind.
Hinzu kommt, dass Abgrenzung und Protest gegenüber der Erwachsenenwelt, der Mehrheitsgesellschaft oder dem Mainstream für viele Jugendliche Teil des Suchprozesses nach Identität und Zugehörigkeit sind.
Gerade weil junge Frauen* sich inmitten widersprüchlicher Erwartungen und diskriminierender Erfahrungen bewegen, können extremistische Erzählungen attraktiv wirken: Sie versprechen einfache Antworten, klare Rollen und vermeintliche Sicherheit – und schaffen damit Orientierung in einer als überfordernd erlebten Welt.
Nicht zuletzt spielen auch Abgrenzung und Protest gegenüber der Erwachsenenwelt, der Mehrheitsgesellschaft oder dem Mainstream eine Rolle.
Ideologische Geschlechterrollen
Extremistische Gruppierungen vermitteln vermeintlich klare Geschlechterbilder, die ein breites Spektrum umfassen – etwa die Rolle der Mutter, Kämpferin, disziplinierten Frau, Missionarin oder Unterstützerin. Die Geschlechterkonstruktionen sind komplementär angelegt: So passt beispielsweise das Bild des kämpfenden Mannes, der die Familie versorgt, zum Bild der Frau, die zu Hause die Kinder großzieht. Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen geben innerhalb dieser Strukturen Orientierung, Status und Wert (vgl. Herschinger, Gaspar et.al. 2018). Frauen* bewegen sich dabei in den von Männern gesetzten Rahmen, haben jedoch zunehmend die Möglichkeit, auch hierarchische Statusrollen zu übernehmen und – über die klassischen Zuschreibungen als Ehefrau und Mutter hinaus – Anerkennung in bisher männerdominierten Bereichen zu erlangen.
Frauen* fungieren häufig als Propagandistinnen. Sie betreiben Social Media Accounts, rekrutieren andere Frauen* und mobilisieren für vermeintlich weibliche Interessen. Ein Beispiel ist die Kampagne der rechtsextremen identitären Bewegung „120 Dezibel“, in der das Thema Gewalt gegen Frauen instrumentalisiert wird, um Rassismus zu schüren.
Festgeschriebene Rollenbilder bleiben bestehen, doch die Handlungsspielräume von Frauen in den Gruppierungen erweitern sich. Sie werden sichtbarer und hörbarer, erlangen durch ihren Status ein Gefühl von Freiheit, Respekt und Anerkennung und werden gezielt als Role Models für andere Frauen inszeniert. Diese Positionen lassen sich im Vergleich zur Leistungsgesellschaft oft schneller erreichen, was zu einer zusätzlichen Aufwertung des eigenen Status führt und dem Gefühl des Versagens entgegenwirkt. Zwar gelten Frauen und Männer in diesen Erzählungen nicht als gleich, innerhalb der klar definierten Rollen, Rechte und Pflichten jedoch als gleichwertig. Dadurch entsteht aus Sicht der Beteiligten eine vermeintliche Form von Gleichstellung, die in Abgrenzung zur als ungerecht empfundenen Dominanzgesellschaft als Fortschritt und vor allem gerechter und entlastender wahrgenommen wird.
Idealkonzepte als Funktion
Junge Frauen* bewegen sich in unterschiedlichen sozialen Rollen – als Tochter*, Partnerin*, Freundin* oder Schülerin* – und versuchen, in diesen Rollen bestimmte Ideale zu erreichen. Dabei geht es nicht nur darum, Erwartungen von außen zu erfüllen, sondern auch darum, für sich selbst ein Idealbild zu verwirklichen. In einer komplexen und oft widersprüchlichen Lebenswelt übernehmen solche Idealkonzepte eine wichtige Funktion: Sie bieten Orientierung, indem sie klare Regeln und Strukturen vorgeben; sie schaffen Entlastung, weil sie einfache Antworten auf schwierige Fragen versprechen; sie ermöglichen Anerkennung, indem sie scheinbar den Weg zu Wertschätzung und sozialem Status eröffnen; und sie stiften Sinn, indem sie Handlungen und Lebensentwürfe in einen größeren, oft moralisch oder ideologisch aufgeladenen Rahmen einbetten.
Besonders anziehend wirken Modelle, die schnelle Ergebnisse und eindeutige Identitätsangebote liefern. Welche Konzepte gewählt werden, hängt stark von den äußeren Bedingungen ab. Während Frauen* mit ökonomischem und kulturellem Kapital eher auf Lifestyle-Modelle wie „Tradwife“, „Divine Femininity“ oder das „Clean Girl“ zurückgreifen, erscheinen für andere konservative oder religiös codierte Frauenbilder als Orientierung – etwa das Ideal der „gottesfürchtigen“, „reinen“ oder „völkischen“ Frau.
Social Media verstärkt diese Dynamik, spielt eine zentrale Rolle und fungiert als Spielwiese für Unmengen an Identitätsentwürfen. Es bietet unzählige Vorbilder und Vergleichsmöglichkeiten, macht vermeintliche Ideale permanent sichtbar und gibt zugleich Werkzeuge zur Selbstinszenierung an die Hand. Damit erfüllen Idealkonzepte nicht nur eine Rolle der Anpassung, sondern auch die Funktion der Selbstvergewisserung – sie vermitteln das Gefühl, in einer unübersichtlichen Welt einen Platz und eine klare Richtung zu haben.
Schlussfolgerungen für die sozialarbeiterische und pädagogische Praxis
Aus Perspektive der Beratungsstelle Extremismus zeigt sich, dass im Radikalisierungsprozess häufig nicht die Ideologie selbst im Vordergrund steht, sondern die dahinterliegenden Bedürfnisse. Unsere Arbeit setzt deshalb genau an dieser Ebene an: Indem wir die Funktionen von Radikalisierung – etwa das Streben nach Zugehörigkeit, Schutz, Sinn oder Selbstwirksamkeit – ernst nehmen und da ansetzen, eröffnen wir Möglichkeiten für Distanzierungsprozesse. Hilfreich ist dabei besonders, jungen Frauen* Beziehung, Anerkennung und das Gefühl zu vermitteln, mit ihren Fragen, Zweifeln und inneren Konflikten gesehen zu werden. Entwicklung kann dann stattfinden, wenn ihre Selbstbestimmung respektiert wird – auch dort, wo sie von vermeintlichen gesellschaftlichen Normen abweicht. Diese Haltung hat sich in unserer Praxis als zentral erwiesen, um Räume zu schaffen, in denen junge Frauen* Vertrauen entwickeln, Handlungsspielräume entdecken und neue Perspektiven erproben können.
Für Multiplikator*innen bedeutet das:
- die eigene Haltung kontinuierlich zu reflektieren,
- die eigene Sozialisation hinsichtlich Freiheit und Selbstbestimmung reflektieren und möglichst einen Schritt zurückgehen,
- eigene Unsicherheiten zuzulassen und als Ausgangspunkt für Weiterbildung zu nutzen,
- Radikalisierung als mögliche Funktion zu begreifen – z. B. als Suche nach Zugehörigkeit, Sinn, Schutz oder Gerechtigkeit,
- junge Frauen* nicht auf vermeintliche Defizite zu reduzieren, sondern als Akteurinnen mit Ressourcen, Fragen und Gestaltungskraft zu sehen,
- und schließlich: Empowerment nicht als pädagogisches Werkzeug, sondern als Haltung zu verstehen, die Partizipation, Selbstbestimmung und kritisches Denken fördert.
Literatur
Abay Gaspar, H., Daase, C., Deitelhoff, N., Sold, M., & Junk, J. (2018). Was ist Radikalisierung? Präzisierungen eines umstrittenen Begriffs. PRIF Report, 5, 5
Fouad, H., & Said, B. (2020). Islamismus, Salafismus, Dschihadismus – Ideologie und Strukturen. Bundeszentrale für politische Bildung. Abgerufen von https://www.bpb.de/themen/islamismus-salafismus-dschihadismus/
Lehnert, E. (2013). Parteiliche Mädchenarbeit und Rechtsextremismus-Prävention. In Amadeu Antonio Stiftung, & H. Radvan, Gender und Rechtsextremismus-Prävention (S. 197–221). Berlin: Metropol-Verlag.
OSCE Policy Brief (2022): The Linkages between Violent Misogyny and Violent Extremism and Radicalization that Lead to Terrorism.
Overdieck, U. (2014). Männliche Überlegenheitsvorstellungen in der rechtsextremen Ideologie. Bundeszentrale für politische Bildung. Abgerufen von https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus
Tinç, M., Brinkmöller, N., Krämer, M., Kreise, L., & Wetchy, M. (2023). Schuld, Scham, Schande: Zur Rolle von Emotionen in der Kommunikation islamistischer Social Media-Akteur*innen. Violence Prevention Network-Schriftenreihe.
Bundesministerium für Inneres. Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) (2025): Verfassungsschutzbericht 2024. Wien.
[1] Der Artikel basiert in großen Teilen auf der Handreichung, die im Rahmen des Projekts Girls*Matter entstanden ist: Handreichung_GirlsMatter.pdf
[2] Diese Zahlen beziehen sich auf die Einschätzungen und Wahrnehmungen der Personen, die die Beratungsstelle Extremismus kontaktieren.